»Von der Schuld und dem Schuldigsein«
Sich zu sich selbst zurückrufen sollen, heißt schuldig sein. (M. Heidegger)

Es scheint, als handele es sich bei der Schuld um eine der am besten verteilten Sache. Jeder hat sie und kein Mensch auf dieser Erde ist frei von Schuldgefühlen. Unser schlechtes Gewissen deckt die Schuld auf. Das Gewissen ist der Indikator dafür, dass an unserem Verhalten und Handeln etwas nicht in Ordnung ist. Es klagt mich an, dass ich nicht so gehandelt habe, wie ich aus dem Grunde meines Herzens hätte handeln sollen und auch wollen, um mit mir selbst identisch zu bleiben.

Schuldgefühle entstehen durch Ungerechtigkeiten, Verletzungen und Fehler im Umgang mit anderen und auch im Umgang mit uns selbst. Schuld haben und schuldig sein kann ich sowohl meinen Mitmenschen als auch mir selbst gegenüber. Selbstvorwürfe sind so verbreitet wie zwecklos – sie verhindern, die richtigen Fragen zu stellen und nach vorn zu blicken. Was hilft es, sich über sich selbst zu ärgern?

Für die meisten Menschen besteht Schuld in aktuellen Fehlern und Vergehen. Das Gewissen ruft sie dazu auf, diese Ordnung des Lebens wiederherzustellen, indem sie andere um »Ent-Schuldigung« bitten, indem sie versuchen, die Schuld auszugleichen und auf irgendeine Weise wieder gutzumachen, zurückzuzahlen und so Schuld zu sühnen. Sie tun dies möglicherweise auch, um drohenden Konsequenzen zu entgehen: Der Wut und dem Zorn der anderen und ihrer Revanche.

In der philosophischen und auch der christlichen Tradition wurde von der aktuellen Schuld und dem aktuellen Schuldigsein eine grundsätzliche, dem Menschen wesenhaft zugehörige Schuld unterschieden. Aus dieser existenzialen Schuld kann sich der Mensch durch keinerlei Tat selbst befreien und sei sie noch so gut. Kein eigenes Werk kann ihn gerecht machen. Es dennoch zu versuchen, zeigt nur an, wie sehr der Mensch in seiner Schuld verstrickt und gefangen ist.

Diese »Grundschuld« beschreibt die faktisch unvermeidliche Tatsache, dass wir gar nicht anders können, als immer wieder ungerecht zu handeln, immer wieder zu verletzen, immer wieder schuldig zu werden – an anderen und an uns selbst, so sehr wir uns auch anstrengen. Wir sollen gut sein und wollen Gutes tun und können es doch nicht. »Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« sagt Paulus (Röm. 7,19) und fragt wenig später: Wer wird mich aus diesem Dilemma befreien?

Alles eigene Handeln zu Vermeidung oder Befreiung von Schuld greift nicht. Es führt vielmehr tiefer in die Schuldverstrickung. Niemand kann doch durch sein Tun erzwingen, dass der, den er verletzt hat, ihm verzeiht. Um Entschuldigung können wir nur bitten. Es bleibt in der Freiheit des Gegenübers, sie zu gewähren.

Der wichtigste Schritt im Umgang mit Schuld ist, sie zu akzeptieren, Fehler anzuerkennen und zu ihnen zu stehen, kurz für das, was ich getan habe, den Kopf hinzuhalten. »Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns von den Sünden befreit.« (1. Joh. 1, 9). Das Zugeben und Annehmen dessen, was falsch war, ist zugleich aber auch das Zulassen und Annehmen meiner selbst, der den Fehler gemacht hat. Im Akzeptieren meiner Fehler nehme ich mich selbst als den an, der Fehler macht. Ich bekenne mich zu meinen Fehlern.

Dieses Bekenntnis ist begleitet von der Hoffnung und dem Vertrauen auf Gottes Treue und Barmherzigkeit. Es ist die Hinwendung und Hingabe zu ihm und damit zu meinem wahren Selbst.

Umgekehrt zeigt sich in der Verweigerung solcher Hingabe, wenn ich also den Schritt ins Vertrauen nicht wage, meine natürliche Tendenz zur Abwendung Gott gegenüber. Dies nannte Martin Luther die Wurzel der Sünde: »Anfang und Grund aller Sünde ist von Gott weichen und ihm nicht trauen.« Ohne dieses Grundvertrauen bleibe ich dazu verurteilt, doch wieder mit eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln Wege aus der Schuld zu suchen.

Befreiung von Schuld gibt es nur in der Selbsthingabe meiner ganzen Person an Gott. Es gibt sie nur »in Christus«, würde Paulus sagen, d.h. am Ort meines wahren Selbst.

»Vergebung der Sünden« ist in neutestamentlicher Perspektive niemals nur Gottes Nachsicht gegenüber meinen aktuellen Fehlern, Schwächen und den Verletzungen anderer durch mich. Sondern es ist die Befreiung davon, sündigen zu müssen. In der Hingabe an den bedingungslos liebenden Gott – im Vertrauen auf ihn – bin ich frei von der Grundschuld, die mein Leben bestimmt. Deshalb ist es dieses Vertrauen, dessen ich zuerst schuldig bin: Gott gegenüber, meinen Mitmenschen und auch mir selbst.

Weil wir auch den Schritt der Hingabe und das Wagnis des Vertrauens nicht selbst in der Hand haben, weil Vertrauen niemals unser »Werk« sein kann, verhelfe uns dazu Gott.

Andreas Bader, Pastor.