Wie ich auf den rechten, d.h., meinen eigenen Weg komme.

Wir kennen die Sehnsucht als ein zweideutiges Gefühl. Das schmerzliche Ziehen in der Brust, das nach der Harmonie mit einem Partner oder nach einer autonomen Freiheit, kurz: nach einem irgendwie »perfekten Leben« verlangt. Zugleich ist es ein schönes Schwelgen in den Vorstellungen vom großen Glück: Sehnsucht ist ein bittersüßes Gefühl.

Es wundert kaum, dass seit der Antike über dieses Gefühl nachgedacht wird. So hat Platon in seinem «Gastmahl» die Sehnsucht betrachtet und in weiteren seiner Dialoge. Eine Wendung im Verständnis ergibt sich im 16. Jh. Der christliche Mystiker Jacob Böhme sieht im Sehnen den einen Wesenszug der Schöpfung zu seinem Schöpfer hin: »Das Sehnen der Finsternis nach dem Licht und der Kraft Gottes«. In der Nachfolge Böhmes haben die Philosophen des Dt. Idealismus in der Sehnsucht den Grund und Ursprung der Religion gesehen. In der Sehnsucht breche die Frage nach dem Sinn auf, nach dem Eins-Werden mit dem Wunderbaren und Unvergänglichen. Erst in diesem Eins-Werden komme es zum wahrhaften Leben.

Die Romantik sieht Sehnsucht als schwärmerisches Suchen, das hier und jetzt stets unbefriedigt bleibt und sich nach dem Anderen sehnt, welches unbekannt bleibt und deshalb möglicherweise auch gefährlich ist. Symbol dieser herzzerreißenden aber stets unerfüllten Suche nach dem alles umgreifenden Glück ist die „blaue Blume“: Ich suche die blaue Blume,/ Ich suche und finde sie nie,/ Mir träumt, dass in der Blume/ Mein gutes Glück mir blüh. schreibt Joseph von Eichendorff (1788–1857).

Offensichtlich kann ich diesem Dilemma zwischen Suchen und Nicht-Finden nicht entgehen. Wie aber kann ich mit damit umgehen, das Sehnen nicht verhindern zu können und doch zugleich zu wissen, dass es zuletzt unerfüllt bleiben wird? Selbst tiefste Resignation würde das Sehnen nur erneut auf den Platz rufen. Aber es gibt eine Alternative zum Auf und Ab der Sehnsuchtsgefühle zwischen schwärmendem „Himmelhoch-Jauchzend“ und depressivem „Zu-Tode-Betrübt“: Eine Möglichkeit, die Sehnsucht und ihren Sinn besser, vielleicht richtig zu verstehen.

In der Buddhistischen Parabel von den „Zwei Strömen“ wird diese andere Möglichkeit als ein mutiges Gehen auf »schmalem Pfad« beschrieben:

Ein Mensch entschied sich, aufzubrechen, um den weiten Weg nach Westen, zur Weisheit, zu gehen. Dabei trifft er auf zwei große Flüsse mit unermesslicher Breite und Tiefe. Der eine mit Feuer und Flammen strömt nach Süden; der andere mit Wellen und Wogen drängt nach Norden. Zwischen ihnen leuchtet ein schmaler, weißer Pfad, etwa 13cm breit. Der Pfad ist 100 Schritte lang, aber wird von Flammen wie von Wellen ununterbrochen versengt und überflutet.

Der Mensch hatte bereits eine große, menschenleere Wüste durchquert. Aber Räuber und wilde Tiere lauerten darauf, ihn zu töten bzw. zu fressen. In Todesangst will er weiter gen Westen fliehen und sieht sich nun den beiden Strömen gegenüber. Der einzige Weg voran ist der weiße, schmale Pfad – ständig bedroht von Feuer und Wasser – Wie kann ich auf ihm überhaupt weiterkommen? In ihm wächst die Angst ins Unermessliche. „Kehre ich zurück, werden mich Räuber und wilde Tiere angreifen, gehe ich weiter gen Westen, komme ich in den Flammen und Wassern um. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass ich hier und jetzt sterben werde. Ich kann auf keinen Fall dem Tode entrinnen.“

Angesichts dessen entschließt er sich, ruhigen Mutes auf dem Pfad weiterzugehen: „Wenn da ein Pfad ist, muss es möglich sein, ihn zu beschreiten und das andere Ufer zu erlangen.“ Im Augenblick dieses Entschlusses hört er plötzlich von Osten her, hinter ihm, eine ermutigende Stimme: „Du, geh doch gefassten Herzens den Pfad weiter! Du wirst der Gefahr des Todes entgehen!“ Und von der anderen Seite, vor ihm, hört er: „Mache dich zuversichtlich auf zu mir. Ich werde dich vor der Gefahr behüten. Fürchte dich nicht, in den Flammen und Wogen unterzugehen!“ Die ermutigende und die einladende Stimme lässt ihn entscheiden, den schmalen Pfad zu betreten, und an Körper und Seele gefasst den ersten Schritt nach vorn zu machen. Den Stimmen der Räuber und wilden Tiere, die ihm den Pfad als zu gefährlich weismachen und ihn zurückrufen wollen: „Wir haben keine böse Absichten dir gegenüber!“, schenkt er keine Beachtung mehr. Er fasst sich ein Herz und geht dem Pfad vertrauend weiter. Im Nu erreicht er das Westufer und begegnet   allen Gefahren entronnen und von ihnen befreit den guten Freunden. Das Zusammensein mit ihnen erfüllt ihn mit tiefer, unermesslicher Freude.

Das Neue Testament erzählt denselben Sachverhalt in der Geschichte vom »sinkenden Petrus« (Mt. 14, 22-33): Die Jünger im Boot mitten auf dem See sehen sich bedrängt von den durch Sturm aufgepeitschten Wellen. Nachts sehen sie Jesus und erschrecken noch mehr, halten ihn für ein Gespenst. Hier Jesu ermutigende Stimme: „Habt Mut! Ich bin es! Fürchtet euch nicht!“ Petrus von der Sehnsucht getrieben, will zu Jesus übers Wasser gehen – durch alle Gefahr und Angst hindurch. Er hört: „Komm!“, steigt aus dem Boot und macht den ersten Schritt auf Jesus zu. Kaum jedoch hat er das Boot verlassen, nimmt er den Sturm wahr und die Wellen, erschrickt und beginnt darin zu versinken. „Rette mich!“, schreit er und sofort streckt Jesus seine Hand aus, ergreift ihn und sagt: „Du hast dein Vertrauen dahingehen lassen! Was bringt dir aber der Zweifel?“

Sehnsucht ist es, die mich auf meinem Lebensweg vorantreibt. Aber mein Lebensweg ist keine abgesicherte, breite asphaltierte Straße und ich kann ihn auch nicht zu einer solchen machen. Ernstliche Gefahren und große Ängste tauchen immer wieder auf. Der schmale Pfad, der stets zwischen ihnen hindurch aufleuchtet, erscheint jedoch erst dann als begehbar, wenn ich mich im Augenblick – angesichts und trotz der Bedrohung – entscheide, dem Pfad zu folgen und den nächsten Schritt zu machen, weiterzugehen, ohne schon vorher zu wissen, wie die Sache konkret ausgeht. Im selben Moment höre ich einladende und ermutigende Stimmen in mir.

Die Stimme der Sehnsucht sagt: Geh! Geh weiter durch alle Angst und Gefahr hindurch. Du wirst behütet sein. Hier gibt es kein Auf und Ab der Gefühle mehr – nur noch den Weg, der sich vor mir zeigt und den nächsten Schritt im Vertrauen.

Andreas Bader, Pastor