Ich gewinne, wenn ich die Dinge mit anderen Augen sehen kann.

Eine alte chinesische Geschichte erzählt von einem Bauern in einem armen Dorf.
Der Bauer war reich, denn er besaß ein Pferd, mit dem er pflügte und Lasten beförderte.
Eines Tages lief ihm sein Pferd davon. Seine Nachbarn riefen, wie schrecklich das sei, aber der Bauer meinte nur: „Wer weiß?“
Ein paar Tage später kehrte das Pferd zurück und brachte zwei Wildpferde mit. Die Nachbarn waren neidisch über solch ein Glück, aber der Bauer antwortete erneut: „Wer weiß?“
Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu reiten. Das Pferd warf ihn ab und er brach sich beide Beine. Alle Nachbarn bekundeten ihm ihr Mitgefühl für dieses Missgeschick, aber vom Bauer hörten sie wieder nur ein: „Wer weiß, ob das ein Unglück ist?“
In der nächsten Woche kamen Rekrutierungsoffiziere ins Dorf, um die jungen Männer zur Armee zu holen. Ein Krieg mit dem Nachbarkönigsreich bahnte sich an. Den Sohn des Bauern wollten sie nicht, weil seine Beine gebrochen waren.
Als die Nachbarn ihm sagten, was für ein Glück er hat, antwortete der Bauer: „Wer weiß…?“

Niemand vermag abzusehen, ob sich vermeintlich gute Dinge nicht zum Schlechten entwickeln und auch nicht umgekehrt. Wie in der Geschichte beschrieben, haben oft auch in unserem Alltag die Dinge eine Doppeldeutigkeit. Kaum etwas ist nur gut und auch nichts ist schlechthin schlecht. Es gibt kein einziges Ereignis, was ich nicht auf mehr als eine Art und Weise betrachten und bewerten könnte. Es ist wichtig Abstand zu nehmen, um Dinge gelassen in den Blick zu nehmen: „Wer weiß…?“

„All Ding hat zwei Seiten,“ sagt man. Bei einer Münze ist die Wahrheit dieses Spruches unmittelbar einsichtig. Auf der einen Seite der Münze finden wir gewöhnlich eine Zahl, auf der anderen einen Kopf oder eine andere Abbildung. Diese Redewendung trifft jedoch auch auf alles andere zu. Es ist möglich, für etwas, das mir spontan negativ scheint, auch dankbar zu sein, wenn ich es von der anderen Seite betrachte: Wenn es dir widerstrebt, dass du Steuern zahlen musst, bedeutet es andererseits, dass du selbst Geld verdienst. Wenn der Wäschekorb schon wieder überquillt, zeigt das auch: Du hast genügend zum Anziehen. Du ärgerst dich über die Laute Sirene eines Rettungswagens. Es bedeutet auch, dass es jemanden gibt, der sich im Notfall auch um dich kümmert. – Du kannst alles, was du erlebst auch von der anderen, positiven Seite sehen.

Diese Zweiseitigkeit gibt es auch im Umgang mit anderen Menschen. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mit etwas oder einem Menschen umzugehen: Eine zuträgliche Weise oder eine Art, die mich nicht vorankommen lässt. Von solchen „zwei Henkeln“ bei jeder Begegnung spricht Epiktet: »Jedes Ding hat zwei Henkel: an dem einen kann man es tragen, an dem andern nicht. Wenn dir deine Schwester Unrecht tut, so fasse die Sache nicht von der Seite an, dass sie Unrecht tut, – und fixiere dich nicht darauf. Denn an diesem Henkel lässt sie sich nicht tragen. Sondern vielmehr von der andern Seite, dass sie deine Schwester ist und mit dir aufwuchs, und du wirst sie anfassen, wo man sie tragen kann.«

Wenn ich in jeder Begegnung, selbst im Konflikt-Fall, den anderen als Menschen sehe, der von Gott geliebt ist wie ich selbst, gibt mir das die Freiheit, nicht in gleicher Weise mit Unrecht zu reagieren. Ich nehme Abstand, trete aus dem Kreislauf heraus, der Böses mit Bösem vergilt. Dies ist der Sinn von Jesu Gebot, nicht zu vergelten. (Mt. 5, 38ff.) Es ist möglich, weil Gott in jedem Menschen lebendig ist. Es ist wirklich, wenn ich ihm vertraue.

Andreas Bader, Pastor