Was uns leben lässt sind nicht unsere technischen Errungenschaften, sondern das Leben selbst.
Wenn Menschen heute von »Ehrfurcht« sprechen, meinen sie Momente, in denen sie sich von etwas Großem überwältigt sehen. Für manche ist das der Blick in eine Felsenschlucht oder bei einem Gewitter Blitz und Donner zu sehen. Andere erschaudern bei der Geburt eines Kindes oder beim Tod eines Menschen.
»Ehrfurcht« ist ein Empfinden so großer Verehrung, dass es sogar von ‚Furcht‘ begleitet wird. Es ist das ursprünglich religiöse Gefühl der Hingabe an etwas, das man höher schätzt als sich selbst. In Ehrfurcht näherte sich Mose dem brennenden Dornbusch. (2. Mose 3, 2ff.)
Ehrfurcht hat auch in profane Bereiche Einzug gehalten. Möglicherweise spürten die Menschen Anfang der 1950er Jahre Ähnliches, als sie das ‚Wirtschaftswunder‘ miterlebten. Nicht erst heute empfinden Menschen Ehrfurcht vor den ‚Wundern der Technik‘ und der damit verbundenen Wissenschaft. Dazu gehören u. a. ‚der erste Mensch auf dem Mond‘ und der Computer, der damals an Bord der Apollo-11 die Rakete steuerte. Wie rasend schnell die technische Entwicklung vorangeschritten ist, lässt sich daran sehen, dass heute schon ein älteres Modell des iPhone 120 Millionen Mondlandungen berechnen könnte. Gegenwärtig ist das Stichwort Digitalisierung zu so etwas wie einem Zauberwort in Politik und Gesellschaft geworden.
Den entscheidenden Schritt in diese Richtung machte die Menschheit in der Epoche der Aufklärung. Für Immanuel Kant, dem zentralen Philosophen dieses Zeitalters, waren es »zwei Dinge, die sein Gemüt mit Ehrfurcht erfüllten: der bestirnte Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm.« Das Firmament steht hier für die Ordnung von Welt und Natur und für die Erkennbarkeit ihres Funktionierens. Der moderne technologische Fortschritt ist ein spätes Kind dieser Welterkenntnis.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfährt das Grundvertrauen in die alles umfassende technische Machbarkeit allerdings einen gravierenden Einbruch. Die Ehrfurcht weicht dem Grauen der beiden Weltkriege. »Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst.« (Adorno) Der Geist der Aufklärung zeigt seine grausame Fratze.
Wenn wir auf unsere Gegenwart blicken, scheint die Menschheit die Erfahrungen der beiden Kriege fast gänzlich vergessen zu haben. Ungebrochen ist das Vertrauen in die uneingeschränkte Kontrollierbarkeit und die Funktionszusammenhänge unserer Welt. Dies gilt auch für den Umgang mit der nun schon seit anderthalb Jahren andauernden Pandemie. Sie ruft augenscheinlich dazu auf, wiederum technische Möglichkeiten zu finden, um sich aus ihr zu befreien. Nur wenige Menschen erkennen in der heutigen Situation die Grenzen menschlichen Machens. Diese aber besinnen sich darauf, was wirklich trägt und bleibt, selbst wenn die gewohnten Funktionszusammenhänge zerbrechen und Technologie nicht mehr hilft.
Im Gegensatz zur alles ergreifenden und kontrollierenden Umgangsweise des Menschen mit der Welt, Natur und dem eigenen Dasein spricht der Philosoph und Theologe Albert Schweitzer von der »Ehrfurcht vor dem Leben«. Achtung und Respekt vor allem Lebendigen ist die »Ehrfurcht vor der Heiligkeit unseres Daseins.« Diese Haltung »ist die wahre Gesinnung, in der dieses Leben gelebt sein will.« In ihr nehme ich alles, was lebt, an, so wie es ist, inklusive meiner selbst. Es gibt keinen Unterschied zwischen wertvollerem oder minderwertigerem Leben. Es gibt nur Leben. Leben hat absoluten Vorrang vor aller Technik. Eine solche sittliche Haltung vertraut nicht auf hergestellte Funktionszusammenhänge. Ihr verblasst die Ehrfurcht vor den ‚Wundern der Technik‘. Sie weiß sich stattdessen »von guten Mächten wunderbar geborgen« und getragen von dem der sagte: »Ich bin das Leben.« (Joh. 11, 25; 14, 6)
Andreas Bader, Pastor.