Wenn ich an das Leiden Jesu denke, kommt mein eigenes Leiden mit in den Blick.
Leiden kann ambivalente Empfindungen auslösen: Wenn ich jemanden leiden sehe, taucht unmittelbar Mitgefühl auf und der Impuls zu helfen, beizustehen, Leiden zu verringern. Aber ich kenne auch das andere: Das Leiden schreckt mich ab. Ich will nicht hinsehen, gehe vorüber, wende mich ab, laufe davon.
Leiden erzeugt nicht nur Mitgefühl, es kann sogar aggressiv werden lassen. Leiden bedrängt mich, rückt mir auf den eigenen Leib. Das Leiden, das ich bei anderen sehe, konfrontiert mich mit meinem eigenen Leiden. Eine Kranke erinnert mich daran, dass ich selbst auch verwundbar bin. Wird jemand verlassen, taucht die Angst in mir auf, selbst verlassen zu werden. Das Leid der anderen löst Abwehr aus, als wäre Leid ansteckend, als könnte es abfärben: Ich will wegschauen, mich fern halten. Möglicherweise werde ich in extremen Situationen sogar aggressiv: »Bleib’ mir vom Hals, ich kann dein Leiden nicht ertragen!« Oft ist es unentwirrbar beides, was das Leiden anderer in mir hervorruft: Mitleid und das Bedürfnis, für die Betreffende da zu sein einerseits, und insgeheim auch der Impuls, mich von dem Leidenden abzuwenden andererseits ‑.
Dieses zwiespältige Ineinander ist umso verhängnisvoller, wenn es sich um einen Menschen handelt, der mir nahe ist. Diejenigen, die ihren schwer kranken Ehepartner über viele Jahre pflegen, kennen das. Trotz alles liebenden Mitgefühls und aller aufopfernden Verantwortung für sie, gibt es auch die anderen Empfindungen: »Es ist genug!« Er schreit sie an, knallt die Tür, verschwindet im Garten, weil er nicht mehr kann. Manchmal wünscht er sich, dass sie stirbt. Endlich wieder einmal eine Nacht durchschlafen, die Kinder und Enkel wieder sehen. Aber dann kommt das schlechte Gewissen, das ihn wieder ans Krankenbett zurücktreibt und zu besonders liebevoller Fürsorge aufruft – jedenfalls solange bis wieder die Überforderung da ist und der Widerwille, bis die Kraft zu Ende ist. „Wenn sie stirbt“, sagen die Leute, „ist es eine Erlösung für sie“ und „Er hat sie so aufopferungsvoll versorgt“. Niemand erfährt etwas von seinen anderen Gedanken und davon, wie er sie angeschrien und allein gelassen hat, wie sehr es eine Erlösung für ihn ist.
In solchen Situationen finden sich Menschen gefangen im Hin und Her von Mitleid und Schuldgefühlen, von Fürsorge und Überforderung, die wieder Verweigerung, Aggression und Schuldgefühle auslöst. Dieser Teufelskreis ist das eigentlich Schwere. Leid wirft für uns stets die Frage nach »Schuld« auf. Das ist bei unserem eigenen Leiden so und auch bei dem der anderen. Wir fragen: Warum muss ich oder sie so leiden? Hätte ich etwas ändern können? Hätte ich etwas tun müssen? Hätte ich doch …! Oft genug verhaken wir uns lange Zeit in diesen Fragen, die wir weder vermeiden noch beantworten können. Wir können weder das Leiden noch die Schuldfrage loswerden, so sehr wir es auch möchten: Wir können Leiden so häufig nicht ertragen. Obwohl wir häufig mitfühlend dem anderen in seinem Leiden beistehen, mit ihr aushalten wollen, bringen wir es doch nicht fertig. Vielleicht genauso wenig wie wir uns unserem eigenen Leiden stellen können.
Wenn ich am Karfreitag an das Leiden Jesu denke, erinnere ich mich unausweichlich auch an das eigene Leiden, meine Hilflosigkeit und mein Unvermögen damit umzugehen. Am Karfreitag bleibt mir nur die Hoffnung, dass Gottes Herz weiter ist als mein Herz: Er wird mit mir ausharren, mit mir das Leid tragen, durch es hindurchtragen. Alles, was ich tun kann, ist mich ihm bedingungslos anvertrauen – wie es Jesus selbst auch getan hat.
Andreas Bader, Pastor